Schlesien ist Marienland und Wallfahrtsland. Seit Jahrhunderten pilgerten wir Schlesier zu unseren althergebrachten Gnadenorten. Die bekanntesten sind Wartha, Albendorf, Grüssau und Annaberg. Trebniz mit dem Grab der hl. Hedwig ist Pilgerziel zur Schutzpatronin des Landes. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten wir unsere Heimat verlassen. Es war auch eine Trennung von unseren geliebten Wallfahrtsstätten. Wir Deutsche im Osten bekamen nun die Rache der Sieger zu spüren. Erschüttert und traumatisiert von schlimmen Erlebnissen und der unmenschlichen Ausweisung aus der Heimat landeten wir unerwünscht und als „Flüchtlinge“ bezeichnet in West- und Mitteldeutschland. Sehr oft in tiefer Diaspora. In dieser leiblichen und seelischen Not war der Glaube unser einziger Halt. Unser erstes Suchen galt einer katholischen Kirche. Viele von uns hatten jetzt den Wunsch, in der Schicksalsgemeinschaft das Leid vor die Muttergottes zu tragen. Der nächste Wallfahrtsort war weit. In der Erzdiözese Paderborn hörten wir von „Werl“. Die Ersten von uns machten sich bereits 1946, als die Vertreibung noch auf dem Höhepunkt war, unter den widrigsten Umständen aus ihren Notwohnungen auf den weiten Weg zur „Trösterin der Betrübten“. Erst kamen hunderte, dann tausende und im Jahr 1947 schon mehr als zehntausend. Von 1948 an organisierte das neugegründete „Sankt-Hedwigs-Werk“ die Schlesierwallfahrt. Sie entwickelte sich sehr bald zur größten Wallfahrt in Werl. 1953 erreichte sie in Anwesenheit von Bundeskanzler Konrad Adenauer und NRW-Ministerpräsident Karl Arnold mit 70.000 Wallfahrerinnen und Wallfahrern die höchste Teilnehmerzahl. Auch in der Folgezeit blieb sie weiterhin jahrzehntelang Großwallfahrt. Die Plätze in der Basilika reichten nicht aus. Deshalb zog die unübersehbare Pilgerschar ab 1947 alljährlich in feierlicher Prozession mit Blasmusik, Bannerträgern, zahlreichen Priestern und dem zu Gast weilenden Bischof durch die Stadt zur „Gänsevöhde“ und feierte dort unter freiem Himmel die Wallfahrtsmesse. Am Nachmittag, zur Marienfeier, gingen wir mit dem Gnadenbild in unserer Mitte ein zweites Mal den Weg. Am Vorabend war bereits die große Lichterprozession diesen Weg gegangen. Die Mittagspause war ausgefüllt mit einem heimatlichen Kulturprogramm, Platzkonzert und dem beliebten schlesischen Marienliedersingen. Verkaufsstände boten schlesischen Kuchen, schlesische Wurst und Heimatliteratur an. Die Wallfahrt war für uns immer auch Heimattreffen und Gelegenheit zum Wiedersehen. Denn wir Schlesier sind ja in alle Winde verstreut. Bis 2016 gab es jedes Jahr noch eine weitere Wallfahrt, nämlich die der Schlesier aus der Grafschaft Glatz.
Als sich die Reihen der Vertriebenen zu lichten begannen, füllten die Spätaussiedler die Reihen wieder auf. Ab dem Jahr 2001 zog die Prozession nicht mehr zur Gänsevöhde sondern zum Kreuzwegplatz. Auch dieser Platz mit seiner Kreuzigungsgruppe unter schattigen Bäumen hat viele herrliche Wallfahrtsgottesdienste gesehen. Im Jahr 2022 konnten wir in der vollbesetzten Basilika das 75jährige Bestehen des St.-Hedwigs-Werkes feiern. Dem Jubiläumsgottesdienst stand der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Dr. Nikola Eterović, vor. Er überbrachte die Grüße des Heiligen Vaters und würdigte in seiner Predigt die Arbeit des Hedwigswerkes und lobte die Glaubenstreue der Schlesier. Es war aber schon abzusehen, dass das verdienstvolle kirchliche Kulturwerk im Jahr 2023 wegen Überalterung der Mitglieder aufgelöst werden musste. Weihbischof Dominicus Meier OSB, Paderborn, empfahl uns bei der Wallfahrt 2023, es nicht als Endpunkt sondern als Wendepunkt anzusehen. Denn unsere Wallfahrt wird unter der Regie der Wallfahrtsleitung Werl weitergehen, immer am letzten Sonntag im Juni. Die Wallfahrtsmesse ist um 10 Uhr, die Marienfeier um 14 Uhr. In der Mittagspause ist geselliges Beisammensein im Pilgersaal. Für uns Schlesier war unser Glaubensfest im Marienheiligtum Werl von Anfang an ein Stück Heimat. „Heimat + Glaube“ war das Leitwort des St.-Hedwigs-Werkes. So Gott will, wird es auch in Zukunft seine Gültigkeit behalten.
(Die Wallfahrten ab 1984 sind auf Video im Internet zu sehen unter youtube.com/@eugenteigeler Suchwort „Schlesierwallfahrt Werl“).
Text: A. Bögner